Mit Tristan Horx, Zukunfts- und Trendforscher, haben wir über die Zukunft der Bildung gesprochen. Über die Schule der Gegenwart, die Auswirkungen des digitalen Wandels auf Schule und Unterricht, die Rolle des Lehrers und darüber, welche Kompetenz im 21. Jahrhundert verstärkt gefragt sein wird. Lesen Sie hier das komplette Interview.

Interview  _  Zukunftsforscher Tristan Horx über Schulen im Hier und Jetzt und die Bildung von morgen

Von Brigitta Wenninger

Tristan Horx ist seiner Zeit voraus. Mit großer Passion, denn er ist Zukunfts- und Trendforscher. Der 27-Jährige stammt aus der berühmten Zukunftsforscher-Familie Horx und gehört zum Team des renommierten Zukunftsinstituts. Der Junior-Futurist, der auch als Dozent an mehreren Hochschulen lehrt, beschäftigt sich unter anderem mit der Generationenfrage, der Digitalisierung und mit Megatrends. Wir haben mit ihm über die Zukunft der Bildung gesprochen. Über Schulen im Jetzt und Hier, über Schulen im digitalen Wandel, über die Schulen von morgen. Für die nächsten Jahrzehnte rät Horx, den Blick stärker auf das Menschliche  zu richten. 

Schule vor 30 Jahren und Schule heute – in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich dort nicht so viel getan, oder?

Ja, der Bildungssektor hängt in Modernisierungsfragen immer ein wenig hinterher. Es muss nicht zwingend etwas Schlechtes sein, erst bei anderen Feldern zuzusehen und es dann besser zu adaptieren. Aber es wurde gar nichts adaptiert. Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass Bildung hauptsächlich eine politische Frage ist.

Die Pandemie hat in den Schulen für einen digitalen Schub gesorgt. Wo ist der Haken?

Corona hat zu einer Beschleunigung geführt. Es wurde nichts neu erfunden, aber die Krise zwingt jetzt Institutionen, Unternehmen und auch die Politik ins 21. Jahrhundert. Im Kontext dieser Zwangsbeschleunigung sind auch Probleme entstanden. Beim digitalen Lernen zum Beispiel hat die Anpassung auch nicht kulturell stattgefunden. Die technischen Fragen zu lösen, das ist nicht schwer. Aber Lösungen für kulturelle Fragen zu finden, das ist nicht einfach. Es geht zum Beispiel um Umgangsformen, darum, wie Lehrpläne für digitalen Unterricht aussehen sollten und um die Frage, wie man überhaupt digital unterrichtet. Im Idealfall gibt es in Zukunft eine sinnvolle Balance zwischen dem Digitalen und dem Kulturellen.

Was würde fehlen, wenn nur noch online unterrichtet würde?

Während des Lockdowns hat sich gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler lieber in die Schule gehen würden, als nur von zu Hause aus zu lernen. Auch das beweist, dass Schule eine ganz andere Funktion hat als nur „Wissenseinprügelung“, sondern dass vor allem das soziale Gemenge dort entscheidend ist. Es geht um sozialstrukturelle Hierarchien, um die Bildung von Gruppen und Cliquen. Das alles ist wichtig für die Evolution. Am Ende ist das Soziale, also das empathische Gut genau das, was uns alle verbindet. Und genau das kommt während Schulschließungen zu kurz. Daher auch die These: Es ist eine Illusion zu sagen, man könnte irgendwann den gesamten Unterricht digitalisieren.

Den Blick aufs Menschliche richten Interview _ Zukunftsforscher Tristan Horx über Schulen im Hier und Jetzt und die Bildung von morgen PantheMedia Andriy Popov
Online-Unterricht ist für Lehrer eine komplexe Herausforderung. Foto: PantherMedia/Andriy Popov

Was spricht noch dagegen?

Durch die Situation beim Homeschooling hat man auch gesehen, dass es vor allem die Frauen sind, die stark etwa unter der Mehrfachbelastung zuhause leiden. Man merkt insgesamt, dass das Ganze eine größere strukturelle Frage ist. Es geht nicht nur darum, ob etwa genug Webcams in der Schule vorhanden sind. Da hängen viel mehr Systeme dran. Bisher hat man immer versucht, das abzukapseln: Wir dreschen jungen Leuten Information rein, und dann kommen sie raus auf den Arbeitsmarkt und alles ist super. Von wegen. Es ist viel komplexer, viel verwobener. Deshalb spricht man auch dauernd vom Fachkräftemangel. Weil das Bildungssystem Leute für den Arbeitsmarkt von vor 20 oder 30 Jahren ausspuckt.

Dann kann jetzt alles nur noch besser werden?

Die jetzige Modernisierung spiegelt strukturelle Schwächen und fehlende Innovationen von früher wider. Krisen führen immer gezwungenermaßen zum Wandel. Es ist natürlich schade, dass dieser Wandel jetzt so schmerzt, aber vielleicht erkennen wir dann auch wieder das soziale Gut innerhalb dieser Dynamik. Das sind gerade wichtige Lektionen: Vielleicht wird man künftig im Strukturellen vermehrt darüber nachdenken, wie man das Soziale fördert.

Wird das momentan zu sehr ausgeblendet?

Es gibt folgende These: Digitalisiert man das sogenannte Back End, also den ganzen logistischen und prozessualen Bereich, dann bleibt mehr Zeit für das Front End, also für den analogen Teil. In einer linearen Fehlprognose denken manche dagegen, dass man Kinder irgendwann von Robotern unterrichten lassen kann. Das ist eine Themenverfehlung. Im Gesundheitssektor passiert das Gleiche, da prognostiziert man auch, dass Menschen irgendwann von Robotern gepflegt werden können. Aber die Frage ist doch: Wer will das, macht das überhaupt Sinn? Nimmt das nicht die ganze soziale Komponente mit raus? Denn die ist ja maßgeblich entscheidend in der ganzen Sache.

Was bedeutet das für die künftige Wissensvermittlung?

Die Informationen, die der Lehrer in seinem Kopf hat und die er Schülern viele Jahre lang eintrichtert, das ist nicht mehr das hohe Gut. Lehrer müssen die Größe haben, sich einzugestehen, dass sich dieses ganze Wissen in der Tasche eines jedes Schülers befindet – auf seinem Handy.

Aber es wird trotzdem noch genug zum Lernen geben?

Es gibt natürlich gewisse Mechaniken, die man lernen muss. Meta-Skills nennt sich das: Vernetztes Denken, das ist sehr wichtig. Und noch etwas ist unglaublich wichtig: digitale Bildung. Nur ein Beispiel: Ich glaube nicht, dass die meisten 14-Jährigen sich bewusst sind, was das bedeutet, wenn sie einem Freund oder einer Freundin ein Nacktbild schicken. Das sind einfach Sachen, die Kinder und Jugendliche wissen müssen. Und dazu kommt noch die Frage, wie man gesicherte Quelle in Zeiten von Fake News findet. Das muss Unterrichtsfach werden, dafür habe ich mich schon lange vor Corona eingesetzt.

Was könnte sinnvoll digitalisiert werden in Zukunft?

Man kann das an praktikablen und greifbaren Beispielen festmachen: Lehrer-Sprechstunden könnte man problemlos digitalisieren. Das gleiche gilt für Orte, an denen der Lehrstoff online verfügbar ist.

Es gibt dafür bereits Plattformen wie Moodle, aber man müsste sie nutzerfreundlicher gestalten. Außerdem wäre vor allem die einfache Möglichkeit zum One-on-One-Kontakt, also eine verbesserte Erreichbarkeit der Lehrer wertvoll. Auch hier gilt, das Pädagogische wird künftig wichtiger, das Wissen wird weniger wert sein.

Wie wird das aussehen in rund 50 Jahren?

Dann hat man vielleicht wirklich schon den Code geknackt, und wir nähern uns dem Punkt, an dem Wissen quasi in die Gehirne von Schülern „hochgeladen“ werden kann. Da wird es sicherlich Fortschritte geben. Und genau das ist dann die Zeit, in der das Pädagogische, der Spaß am Lernen und die sozialen und digitalen Kompetenzen noch wichtiger werden. Es ist nämlich ein Fehlglaube, dass mit zunehmender Digitalisierung humane Kompetenzen weniger wichtig werden.

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Übernehmen irgendwann Roboter den Unterricht? Für Zukunftsforscher Horx ist das überhaupt keine Lösung. Foto: PantherMedia_Dmyrto_Z

Sind in Zukunft eher Coaches statt Lehrer sinnvoll?

Es wäre in jedem Fall ein positiver Wandel, wenn Lehrer durch die Digitalisierung irgendwann mehr Zeit haben, für einen persönlichen und coachenden One-on-One-Kontakt zum Schüler. Und damit auch mehr Zeit für die Vermittlung sozialer Kompetenzen. Wenn die Maschinen bessere Maschinen werden, müssen die Menschen bessere Menschen werden. Aber weil wir immer nur in eine Richtung schauen, können wir uns nicht vorstellen, dass mit zunehmender Digitalisierung eine zunehmende Humanisierung stattfinden muss. Plötzlich fällt es einem wieder ein: Schule ist ein Ort der sozialen Begegnung. Und genau deshalb wollen Schüler, die während eines Lockdowns zu Hause sitzen, auch unbedingt wieder dorthin zurück. Wer nur noch online unterrichtet wird, verliert dadurch wertvolle Erfahrungen. Was Kinder und Jugendliche vor allem verlieren, ist eine sehr schöne Sache im Leben: Den Zufall, der in der Schule und der im sozialen Gefüge passieren kann. Das geht völlig flöten, wenn alles total durchgeplant und durchgetaktet ist.

Was sind weitere Nachteile des Online-Unterrichts?

Nur rund 50 Prozent der Kommunikation zwischen Menschen ist verbal. Genau deshalb sind Online-Unterricht und -seminare oft so erschöpfend. Ich bin selbst Dozent: Digital zu lehren, das raubt alle Kräfte. Denn das eigene System sucht die ganze Zeit nach den anderen 50 Prozent. Es bekommt aber die Befriedigung nicht, die wir als soziale Wesen brauchen und wollen. Dass führt zu einer Art Apathie. Verrückt ist auch, dass vielerorts das alte Modell Schule eins zu eins ins Digitale übertragen wurde. Erst danach kam man darauf, dass das nicht funktioniert. Das hätte ich auch schon davor sagen können. Man muss damit didaktisch ganz anders umgehen: 20 Minuten unterrichten, dann in Gruppen arbeiten lassen, dann gemeinsam ein Video schauen, dann die Schüler ein Online-Tool ausprobieren lassen –  die Aufmerksamkeitsspanne im Digitalen funktioniert ganz anders. Das geht nicht mit dem klassischen 45 Minuten Frontalunterricht, da pennt jeder weg.

Was können die Coaches von morgen besser machen?

Die Bildungswelt, die der industriellen Revolution gefolgt ist, und die wir immer noch haben, versucht, junge Leute in eine Form zu pressen, damit sie am Ende gut verdaulich für den Arbeitsmarkt sind. Was wir stattdessen brauchen sind Coaches, die gelernt haben, mit heterogenen Gruppen umzugehen und wissen, wie man Stärken und Talente fördert. Bei Privatschulen funktioniert das bereits gut. Ich war in Österreich auf einer öffentlichen Schule, mein Bruder auf einer privaten Schule angemeldet. Dort war die Talentförderung auf einem ganz anderen Niveau. Das ist aber letztlich auch nur eine Ressourcen-Frage.

Wir bräuchten also dringend mehr Lehrer?

Im Lockdown wurde und wird viel über systemrelevante Berufe gesprochen. Jetzt merken auf einmal alle, wie verdammt systemrelevant auch Lehrer sind. Und das nicht nur aus der Perspektive, dass sie Kindern etwas beibringen. Sondern weil sie auch auf Kinder aufpassen. Das bekommen gerade vor allem die Mütter zu spüren, die zu Hause festhängen und mit den Kinder Schulübungen machen müssen, weil die Schule geschlossen oder die Schüler in Quarantäne sind. Das mindert auch wieder den kleinen Fortschritt, den wir am Arbeitsmarkt in Bezug auf Frauen gemacht haben – der wird sozusagen mit Füßen getreten.

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Schulen dienen nicht nur der Wissensvermittlung. Sie sind vor allem auch ein Ort der sozialen Begegnung. Foto: PantheMedia Alexraths

Wird das heutige Benotungssystem irgendwann Schnee von gestern sein?

Im alten Modell hat der Bildungsmarkt schubladengeeignete Fachkräfte ausgespuckt, die man in verschiedene Branchen stecken konnte. Da war es natürlich hilfreich, quantifizieren zu können, wie gut jemand in einen bestimmten Bereich passt. Künftig werden Berufe detaillierter und differenzierter. Man muss dafür sorgen, dass Schüler flexibel und agil bleiben, nur so finden sie ihre eigenen Talente. Wer ständig mit schlechten Noten kämpft, hat wenig Zeit, die eigenen Talente zu entfalten. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Noten, aber die Frage ist, wo und wann Benotungen sinnvoll sind. Auch das ist bei Privatschulen oft anders. In der Talentförderung wird klar analysiert, wo Stärken und Schwächen liegen. Leider wird andernorts oft gesagt, dass die Schüler an schlechten Noten schuld seien und nicht die Lehrer. Das ist ein massiver Denkfehler. Die Aufgabe des Lehrers kann doch nicht sein, wie eine prüfende Wand zu wirken. Seine Aufgabe ist, dass Schüler auf ihre eigene Art und Weise das verstehen, was sie verstehen müssen, um weiterzukommen.

Beschert das dem Arbeitsmarkt dann auch mehr Fachkräfte?

Viel wichtiger noch: Man bekommt mehr Leute, die am Ende das machen, wofür sie brennen. Und das ist genau das, was die moderne Wirtschaft braucht.

Was würden Sie Schulen und Bildungspolitikern raten im Hinblick auf die nächsten Jahrzehnte?

Sie sollten nicht den Fehler machen, sich von der digitalen Aufholjagd ins 21. Jahrhundert fehlleiten zu lassen. Es wird nicht linear weiterlaufen. Mit zunehmender Digitalisierung wird die soziale Kompetenz auch am Arbeitsmarkt wichtiger. Wir bilden Leute aus für eine Welt, in der es bald nicht mehr genug klassische Arbeit für uns alle gibt. Gerade dort werden wieder die empathischen Fähigkeiten zählen. Genau dieses humane Kapital sollte man in Betracht ziehen. Im Mittelpunkt muss wieder stehen, ins Menschliche hineinzusehen. Das wird schwer, denn alle sehen nur die digitale Flut auf sich zukommen. Sich davon zu lösen, das wäre mein Ratschlag. Die jüngeren Generationen sind smart und haben viel Zugang zu Information. Sie wollen lernen und werden immer intelligenter. Es wäre sinnvoll, auch sie zu fragen, welche Formate sie für geeignet halten. Und sie stärker einzubeziehen, wenn es um Entscheidungsfragen geht.

Tristan Horx - Foto Studio Kamenar
Tristan Horx – Foto Studio Kamenar

Tristan Horx (27) ist Zukunfts- und Trendforscher.

Foto: Fotostudio Kamenar